Auf dem Papier ist der Kanton Zürich äusserst grosszügig: Die Steuerzahler dürfen ihre Aufwendungen für die Krankenkasse, für Lebens- und Unfallversicherungen und selbst den Zinsertrag auf dem Sparkonto vom steuerbaren Einkommen abziehen. Für jeden dieser Posten gibt es in der Steuererklärung extra eine eigene Zeile. In der Praxis aber können sich die meisten Haushalte diese detaillierte Aufstellung sparen. Denn das abzugsfähige Total ist so tief angesetzt, dass nicht einmal die Krankenkassenprämien vollständig angerechnet werden können, von anderen Versicherungen und den Sparzinsen ganz zu schweigen.
Ein Ehepaar mit zwei Kindern zum Beispiel darf höchstens 7800 Franken abziehen. Dabei bezahlt die Familie nur schon für die Krankenkasse im laufenden Jahr rund 11 000 Franken (mittlere Prämie gemäss Bundesamt für Gesundheit). Im nächsten Jahr werden ihre Krankenkassenprämien sogar auf knapp 11 800 Franken steigen, also auf rund 4000 Franken mehr, als in der Steuererklärung abgezogen werden darf.
Diese Diskrepanz zwischen hohen Prämien und tiefem Abzug könnte bald schon vermindert werden: Am 27. November stimmt der Kanton Zürich über die sogenannte Gerechtigkeitsinitiative der SVP sowie über einen Gegenvorschlag ab. Beide bezwecken eine Erhöhung des abzugsfähigen Maximums. Die Initiative sieht vor, dass der Abzug für Erwachsene von 2600 auf 3600 Franken erhöht wird und jener für Kinder von 1300 auf 1500 Franken. Ein Paar mit zwei Kindern könnte also künftig 10 200 Franken abziehen, 2400 Franken mehr als heute.
Der Gegenvorschlag will weniger weit gehen: Es soll nur der Betrag für Erwachsene erhöht werden, und zwar um bloss 300 Franken. Ein Ehepaar mit zwei Kindern dürfte also neu maximal 8400 Franken anrechnen lassen, 600 Franken mehr als bis jetzt.
Je nach Lohn und Modell würden die Steuerzahler ein paar Zehner- bis ein paar Hunderternoten sparen. Bei einem steuerbaren Einkommen von 80 000 bis 120 000 Franken würde sich die Steuerrechnung beim Gegenvorschlag gemäss Berechnungen des Kantons um etwa 60 bis 120 Franken reduzieren, bei einem Ja zur Initiative wären es sogar zwischen 200 und gut 400 Franken.
Die Initiative und der Gegenvorschlag unterscheiden sich noch in einem weiteren zentralen Punkt: Die Initiative verlangt, dass der Maximalabzug an die Entwicklung der Krankenkassenprämien gekoppelt wird. Der Gegenvorschlag hingegen sieht nur vor, dass die Abzüge wie bereits heute alle zwei Jahre an die allgemeine Teuerung angepasst werden. Der Unterschied ist ein feiner, aber ein entscheidender, vor allem langfristig: Zwischen 1999 und 2021 stiegen die Konsumentenpreise in der Schweiz um nicht ganz 10 Prozent. Die Prämien für die Krankenkasse aber haben sich im gleichen Zeitraum verdoppelt.
Im Vergleich mit seinen Nachbarkantonen ist Zürich heute bei den Abzügen für Versicherungsprämien nicht besonders grosszügig. Bei Alleinstehenden und Ehepaaren sind die Zürcher Grenzwerte am tiefsten, bei einer Familie mit zwei Kindern liegt Zürich immerhin knapp vor den Kantonen Aargau und Schwyz. Mit dem Gegenvorschlag würde sich im Ranking nichts ändern, bei einer Annahme der Initiative aber liesse Zürich alle Nachbarkantone hinter sich und liesse neu die höchsten Abzüge zu.
Der Kanton Thurgau hatte seine Sätze bereits 2020 erhöht, dieses Jahr haben der Aargau und Schaffhausen die Limiten angehoben. Einen besonders grossen Sprung haben die Schaffhauser hingelegt: Im Februar beschloss das Stimmvolk des Nordschweizer Kantons, die Abzüge zum Teil mehr als zu verdoppeln. Damit hat Schaffhausen alle anderen Kantone in der Region überholt. Auch auf Bundesebene sollen die Abzüge deutlich erhöht werden.
Die Zürcher Kantonsregierung und eine Mehrheit des Kantonsparlaments unterstützen zwar die grundsätzliche Stossrichtung und den Gegenvorschlag, sie lehnen aber die Initiative als zu extrem ab. Dies gilt auch für den Finanzdirektor Ernst Stocker, obwohl er selbst in der SVP ist. Ein Hauptargument sind Steuerausfälle: Je 150 Millionen Franken für den Kanton und die Gemeinden würde die Initiative pro Jahr kosten. Abgelehnt wird weiter auch die automatische Anpassung des abziehbaren Betrags an den Anstieg der Prämien. Das sei unübersichtlich und erschwere die Budgetplanung, sagt die Regierung.
Selbst die FDP sprach sich im Parlament gegen die Initiative und damit gegen eine Steuersenkung im angestrebten Umfang aus: Der Effekt sei für den Einzelnen klein, die Steuerausfälle beim Staat jedoch seien gross. Die Freisinnigen tragen aber den Gegenvorschlag mit – dieser würde den Kanton und die Gemeinden je rund 45 Millionen Franken kosten.
Mitte-links argumentiert, dass die steigenden Gesundheitskosten das wahre Problem seien und nicht die zu tiefen Abzugsmöglichkeiten. Ausserdem würden Gutverdiener überproportional von höheren Abzügen profitieren. Das Geld solle besser in die Prämienverbilligung investiert werden.
Patrick Walder ist SVP-Kantonsrat aus Dübendorf und Mitglied des Initiativkomitees. Dass der Kanton und die Gemeinden bei einer Annahme ihrer Vorlage in finanzielle Schwierigkeiten kämen, will er so nicht stehen lassen: «Das Geld ist ja nicht einfach weg», sagt er. «Die Steuersenkung bedeutet, dass insbesondere dem Mittelstand mehr für den Konsum bleibt, und davon profitieren die lokale Wirtschaft und letztlich auch der Staat.» Ausserdem, sagt Walder, erhöhe der Kanton im nächsten Jahr die Prämienverbilligung deutlich, «und da fragt auch niemand, ob wir uns das leisten können». Für 2023 liegt der Betrag bei gut einer Milliarde Franken, etwa die Hälfte davon wird vom Bund übernommen.
Obwohl die SVP hofft, dass ihre Initiative an der Urne durchkommt, verschliesst sie sich dem Gegenvorschlag nicht. «Unsere Parole ist ein doppeltes Ja und bei der Stichfrage Vorlage A, also unsere Initiative», sagt Walder. Der Gegenvorschlag gehe ihnen in wichtigen Punkten zwar zu wenig weit, «aber unser Ziel ist es, dass die Bürger am Ende nicht mit leeren Händen dastehen», sagt Walder. Der Gegenvorschlag verdeutliche, dass die Regierung und das Parlament das Problem grundsätzlich erkannt hätten. «Leider fehlt ihnen aber der Mut, zuzugeben, dass die bessere Lösung jene der SVP ist.»
Mit Blick auf frühere Abstimmungen in anderen Kantonen hat die SVP guten Grund, zuversichtlich zu sein: Im Aargau wurde die Erhöhung der Steuerabzüge für die Krankenkassenprämien mit 57 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Im Kanton Schaffhausen waren sogar fast drei Viertel der Stimmbürger dafür.